Liebe Leser,
an dieser Stelle haben wir mal wieder einen kleinen Buchtipp für euch: „Wir Wochenendrebellen“ von Mirco von Juterczenka (eins vorab: keine Sorge, der Text ließt sich wesentlich flüssiger als der Autorenname 😉 ). In der Fußballzeitschrift 11 Freunde – übrigens auch demnächst bei uns im Bestand – war ich auf diesen interessanten Titel aufmerksam geworden, der einerseits das von mir geliebte Thema Fußball behandelt, gleichzeitig aber nicht als typisches Buch des runden Leders daherkommt. Das liegt vor allem daran, dass der Deutschen liebster Sport zwar eine wichtige Rolle in der Geschichte einnimmt, im Grunde aber eher den Rahmen für das eigentliche Thema bildet: die komplizierte Beziehung zwischen einem im Arbeitsalltag zu ersticken drohenden Vater und seinem autistischen Sohn.
Das Projekt…
Da sie in der Regel unter der Woche kaum Zeit miteinander verbringen können, starten sie ein besonderes Projekt für die freien Wochenenden. Der Deal: Der fußballbegeisterte Vater nimmt seinen Filius solange mit in die unzähligen Stadien Deutschlands, bis dieser sich für eine Mannschaft besonders erwärmt und ihr sein Fan-Sein attestiert. Klingt an sich erst mal recht simpel, stellt sich dann aber doch als wesentlich komplexer heraus als wahrscheinlich vorher gedacht. Dazu muss man wissen, dass Jason (so heißt der Sohnemann) durch sein Asperger-Syndrom kein gewöhnlicher Reisebegleiter ist und seine ganz eigenen Regeln und Ansichten hat. Wenn diese nicht befolgt werden oder etwas nicht so läuft, wie geplant, kann es ganz schnell ungemütlich werden für den Papa oder eben auch unbeteiligte Umstehende/Mitreisende.
Die kleinste Abweichung vom Masterplan sorgt unter Umständen dafür, dass Jason unvermittelt an die Decke geht, alles und jeden aufs Übelste beschimpft und so lange auf seinen Willen besteht, bis „Papsi“ (wie er seinen Vater in den liebevolleren Phasen nennt) eine Lösung für das Problem findet – sollte diese auch noch so aberwitzig sein. So entstehen während diverser Stadionaufenthalte oder dem Weg dorthin teils skurrile Situationen, die für den Leser äußerst amüsant sind, dem werten Papa aber alles abverlangen. Jason weigert sich beispielsweise ein Stehklo zu benutzen, um die Notdurft – die in dem Fall wirklich extrem nötig ist – zu verrichten. Am Hamburger Millerntor sehen sich die beiden dann ausschließlich mit (sagen wir mal nicht gerade klinisch reinen 😉 ) sanitären Einrichtungen konfrontiert, die natürlich keinen Sitzplatz bieten. Der solche Ausnahmesituationen gewohnte Vater findet zum Glück eine simple, wie elegante Lösung, die aber hier nicht verraten werden soll 😛 . Überhaupt muss man sagen, dass diese Wochenendtrips fernab des familiären Alltags erstaunlich glatt laufen, wenn man bedenkt was sie auch Jason jedes Mal abverlangen. Er wächst dabei regelmäßig über sich hinaus und meistert Situationen, die sich mit seinem eigentlichen Verständnis des (Zusammen)Lebens so gar nicht decken. So hasst er etwa Körperkontakt zu anderen Menschen, steht und sitzt aber dennoch auf den diversen Tribünen inmitten anderer zigtausend Fans. Die Planungen für die Fußballreisen darf Jason übrigens teilweise komplett übernehmen, und so pickt er z.B. einmal das äußert schmackhafte Zweitligaspiel zwischen dem VfR Aalen und dem SV Sandhauen (bei Minusgraden wohlgemerkt!) heraus, während sein Reisebegleiter inständig auf ein doch etwas attraktiveres Spiel gehofft hatte. Trotz eines scheinbar trostlosen 0:0-Unentschiedens kam Jason dabei voll auf seine Kosten – erfreute er sich doch bei jedem Eckball an dem eingespielten Werbejingle eines örtlichen Sponsors. Überhaupt muss man sagen, dass er die Attraktivität eines Spiels oder eines Vereins nicht nach den üblichen Fan-Maßstäben misst. So ist für ihn die Einheitlichkeit der Schuhfarbe einer Viererkette genau so bemerkenswert wie fantastische Ballstafetten oder sensationelle Paraden. Durch diese besonderen Sichtweisen entwickeln sich zahlreiche unterhaltsame Reisen durch die Fußball-Republik. Ein Ende dieser speziellen Art des Groundhoppings ist übrigens nicht in Sicht – der Sohnemann hat sich bislang (sehr zum Leidwesen des Papas, der ihn insgeheim doch gerne in den Farben seiner Fortuna aus Düsseldorf gesehen hätte) noch für keinen Verein final entschieden…
Ausgezeichnet!
Das Buch basiert übrigens auf dem gleichnamigen Blog, in dem Mirco von Juterczenka seine Eindrücke und Erlebnisse mit Jason während all der besuchten Spiele und darüber hinaus mit Interessierten teilt.
Insgesamt ist „Wir Wochenendrebellen“ ein wirklich gelungenes, unterhaltsames Buch, dass nicht nur Fußballfans ansprechen sollte. Man erfährt einiges über die speziellen Eigenschaften des Autismus (wie z.B. dass Jason nicht darunter „leidet“, wie es ja oft formuliert wird, sondern dass es einfach ein besonderer Aspekt seines Charakters ist) und den langen, komplizierten Weg zum richtigen Umgang mit der Diagnose. Jason hat tolle, außergewöhnliche Fähigkeiten auf gewissen Gebieten – wie etwa der Naturwissenschaft – scheitert aber gleichzeitig an den banalsten Alltagssituationen. Nur dem unermüdlichen, geduldigen Einsatz der Mama (die übrigens auch noch seine kleine Schwester betreut) ist es zu verdanken, dass Jason einigermaßen durchs Leben kommt und mit seinem Papa diese großartigen Fluchten aus dem üblichen Trott unternehmen kann. Dabei werden im Buch auch die Ängste der Eltern um ihren Sohn (und den Umgang der Mitmenschen mit ihm) und die daraus resultierenden Zerreißproben für die Familie nicht ausgespart.
Klar, man darf kein literarisches Meisterwerk erwarten, schließlich gibt der Verfasser dieser Zeilen gleich zu Beginn zu: „Ich bin wie gesagt kein Asperger-Experte oder Autismus-Fachmann, ich bin kein Therapeut, kein Mediziner, kein Autor, kein Professor, Doktor oder Pädagoge. Ich bin Vater.“
Aber dafür ist der Text ehrlich, emotional, manchmal nachdenklich und oftmals einfach lustig. Abgerundet wird das Buch durch die von Jason geschriebene Einleitung und das Glossar, in dem er erklärungsbedürftige Begriffe erläutert.
Das Projekt hat übrigens (völlig zu Recht, wenn ihr mich fragt 🙂 ) auch schon den Grimme Online Award gewonnen. Hier der Film dazu: https://www.youtube.com/watch?v=RFHv2C805iE
Und wer es direkt ausleihen möchte, findet hier den Link zum Titel in unserem OPAC.
Viele Grüße von Dominik Dax
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